Learning Together: Skin-Picking: Das Ventil für negative Gefühlszustände - Auslöser und Tipps zur Behandlung

 
 

Unsere Haut gelegentlich zu kratzen, zu drücken oder mit den Fingern abzutasten, gehört zu den unbedenklichen und weit verbreiteten Verhaltensweisen. Wie sieht es jedoch aus, wenn wir wesentlich brachialer mit unserer Haut umgehen? An ihr ziehen, quetschen, drücken, reiben, heftig kratzen oder sogar kleine Hautstücke abziehen?

Dieser “Skin-Picking-Disorder” wird auch Dermatillomanie genannt. In diesem Beitrag möchte ich dir Einzelheiten zu diesem Thema geben und hilfreiche Tipps von Betroffen mit dir teilen.

Let’s learn together.

Was bedeutet der Begriff Skin-Picking?

Das Skin-Picking (auch Dermatillomanie, Skin-Picking-Disorder oder Excoriation Disorder genannt) ist eine “noch” viel zu wenig erforschte psychische Störung, bei der die Betroffenen unkontrolliert an ihrer Haut kratzen, drücken, quetschen oder knibbeln. Es wird geschätzt, dass ein bis fünf Prozent der Bevölkerung davon betroffen sind. Der Frauenanteil beträgt circa 60 bis 90 Prozent, wobei die Dunkelziffer bei Männern hoch ist.

Die Dermatillomanie wird den Impulskontrollstörungen zugeordnet und ist eine anerkannte psychische Erkrankung. Sie tritt besonders häufig in der späten Kindheit oder frühen Jugend auf, kann aber auch im Erwachsenenalter auftreten. Sie verläuft phasenhaft und wird oftmals chronisch, wenn sie nicht behandelt wird.

Die Ursache:

Als Ursachen werden verschiedene Faktoren diskutiert, allerdings fehlen bislang aussagefähige Befunde.

Ausgelöst wird das schädigende Verhalten oft durch eine Kruste, einen Sonnenbrand, einen Mückenstich, einen Hautausschlag oder einen Pickel in Verbindung mit individuellen Stresssituationen wie etwa:

  • Streit

  • Leistungsdruck

  • Trauer

  • Trauma usw.

Die Häufigkeit und die Situationen, in denen die Haut “bearbeitet” wird, sind vielfältig. Manche Skin-Picker*innen schreiten eher unbewusst zur Tat, etwa wenn sie sich langweilen oder unter Druck stehen, während sie lesen, fernsehen oder vor dem Computer sitzen; bei anderen gehört dieses Skin-Picking mittlerweile schon zur täglichen “Routine”.

Verhaltensweisen:

Besonders häufig wird die Haut im Gesicht, am Hals, an den Schultern, der Brust oder an den Händen malträtiert. Aber auch schwieriger zugängliche Körperstellen können betroffen sein. Von vielen Betroffenen werden in dieser Form Fingernägel, Zähne, aber auch Werkzeuge wie Pinzetten, Nadeln, Scheren und Messer eingesetzt. Meistens fließt Blut und es entstehen starke Rötungen, vereiterte Stellen, offene Wunden und Narben.

Viele wissen, welche negativen Konsequenzen mit dieser „Zerstörungsarbeit“ einhergehen. Können sie diese Handlung jedoch nicht verhindern, hören sie oftmals nur damit auf, weil der Drang nachlässt oder weil sie erschöpft sind.

Das Bearbeiten der Haut wird kurzfristig als entspannend, angenehm und stimulierend empfunden, dann aber stellen sich Reue und Schuldgefühle ein. Anschließend wird die Haut gepflegt und versteckt, bis erneut der Drang einsetzt, sie als Ventil für negative Gefühlszustände zu nutzen. Noch nicht verheilte Wunden werden erneut aufgerissen, sodass es zu schmerzhaften Komplikationen kommen kann. Darüber hinaus wird der Hautbearbeitung übermäßig viel Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet, so dass andere Tätigkeiten vernachlässigt werden.

Hinzu kommt Scham wegen der offensichtlichen Verletzungen, die dazu führt, dass sich die Betroffenen zurückziehen und das Haus eine Zeit lang nicht mehr verlassen. Sie fürchten Fragen, Kritik und soziale Zurückweisung und isolieren sich. Folglich wird ihr Leben durch die Erkrankung immer stärker eingeschränkt.

Die Problematik:

In ihrem Umfeld stoßen die Betroffenen oft auf Unverständnis, denn die Wunden ziehen die Blicke auf sich und lösen Abscheu aus. Zudem wird den Betroffenen vorgeworfen, sich nicht von schlechten Angewohnheiten lösen zu können. Dabei wird jedoch übersehen, dass es sich um ein ernstes Problem handelt. Mit dem Vorsatz, „sich zu beherrschen und die Haut einfach in Ruhe zu lassen“, ist es also nicht getan. Die Dermatillomanie bedarf vielmehr einer fachgerechten Behandlung.

Welche Möglichekiten gibt es für eine fachgerechte Behandlung?

Bewährt hat sich unter anderem das Habit-Reversal-Training (Gewohnheitsumkehr), bei dem das problematische Verhalten durch andere Verhaltensweisen ersetzt wird. Das alte Problemverhalten wird quasi unterdrückt und auf diese Weise verlernt.

Solche alternativen Verhaltensweisen bestehen beispielsweise darin, die Hände zu falten, sie zu Fäusten zu ballen oder sich auf die Hände zu setzen. Darüber hinaus ist es hilfreich soziale Kompetenzen (zum Beispiel „Nein“ sagen, offen über Gefühle sprechen) und Techniken der Emotionsregulation einzuüben, das Selbstwertgefühl und die Selbstakzeptanz zu stärken und die eigenen Bedürfnisse mehr zu berücksichtigen, um allgemein ein besseres Lebensgefühl zu entwickeln. 

Fällt es dir schwer das Wort “NEIN” laut und deutlich auszusprechen? Hier findest du einen kleinen Guide von uns: “Just say No!” - Warum es wichtig ist Grenzen zu setzen.

Therapievorschläge und Tipps von Betroffenen:

1. Tracke dein Picking-Verhalten:

Um zu verstehen, wann und warum genau du mit dem Picking anfängst, ist es sehr hilfreich eine Zeit lang alle Aktivitäten zu tracken und zu notieren welche Gefühle vorherrschen, wie lange die Session ging, wie intensiv sie war und wie du dich danach fühlst. Je achtsamer du bist, desto besser kannst du dich verstehen und dir selbst helfen. Die kostenlose SkinPick-App und auch dieser Selbstbeobachtungsbogen zum Ausdrucken können dabei sehr hilfreich sein.

Skin-Picking-Beobachtungsbogen.jpg

Wie funktioniert der Selbstbeobachtungsbogen?

Bei diesem Wochenprotokoll trägt man täglich die Intensität des “Pickens” auf einer Skala von 0 - 10 ein. Zusätzlich können Anmerkungen zu den verschiedenen Situationen, in denen sich Betroffene befinden, angegeben werden (Beispiel: Beim Lernen, während dem Frühstück usw.). So lassen sich schon nach 1-2 Wochen eindeutige Verhaltensmuster erkennen, an denen folglich gearbeitet werden kann.

2. Annette Pasternak:

Diese Frau ist selbst Skin-Pickerin gewesen und gibt über ihren YouTube Kanal ganz viele tolle und hilfreiche Tipps für Betroffene. Ebenso hat sie ein sehr empfehlenswertes Buch The Freedom to finally stop geschrieben und dieses Gewohnheitstrackingheft erstellt. Ganz toll!

3. Erkenne deine Trigger:

Fast alle Skin-Picker*innen haben einen konkreten Trigger, der für sie das Picken auslöst. Das kann das Befühlen der Haut sein oder eine bestimmte wiederkehrende Situation im Tagesablauf (beim Identifizieren hilft dir die Tracking-App, siehe Punkt 1).

Um bestimmte Trigger zu blockieren, hängen viele Betroffene ihre Spiegel einfach ab oder decken diese fiesen Vergrößerungsspiegel mit Tageslichtlampe mit einem Tuch ab. Darüber haben wir bereits in dieser Learning Together Serie: 8 Gründe wieso du deinen Vergrößerungsspiegel entsorgen solltest, berichtet.

4. Ersetze das Skin-Picking mit einer anderen Tätigkeit:

Generell gilt: Alles, was gut für dich ist, ist auch gut gegen das Skin-Picking, denn es senkt deinen Stresslevel. Deshalb kann es sehr hilfreich sein eine Tätigkeit zu suchen, die dir gut tut und dein Stresslevel senkt. Wenn du bestimmte Zeiten hast, an denen du pickst, mache radikal etwas anderes. Du kannst malen, basteln, meditieren, ein neues Rezept ausprobieren, einen Podcast hören, tanzen usw. es gibt ganz viele tolle Möglichkeiten :)

Falls deine Finger etwas zum Knibbeln brauche können dir vielleicht diese Tipps helfen: Für manche funktionieren Luftpolsterfolie, getrockneten Flüssigkleber von der Haut ziehen oder Perlen aus Knete zu quetschen. Manche geben sogar an, dass sie ihre Haarbürste minutiös von Haaren befreien oder Schutzfolien von Dingen abziehen. Du findest bestimmt auch etwas.

5. Probiere Hydrocolloid-Pflaster:

Diese kleinen durchsichtigen Pflaster sind freundlich zur Haut, beschleunigen die Wundheilung und ziehen Eiter und Wundflüssigkeiten an.

Weitere Pluspunkte: Du kannst nicht mehr an den eh schon angegriffenen Stellen herumfummeln. Du siehst auch weniger davon. Die Pflaster sind relativ unauffällig, manche tragen sie auch in der Öffentlichkeit, zum Beispiel unter dem Makeup.

6. Vertraue dich deinen Liebsten an:

Deine Liebsten können dir eine große Hilfe sein und dir, je nachdem was für dich funktioniert, unterstützend beistehen. Sie können dich darauf aufmerksam machen, wenn du unbewusst pickst oder dich nach zehn Minuten im Bad abholen und dir Trost spenden, falls du es mal wieder übertrieben hast. Wenn du Menschen findest, die dein Picking verstehen, dir zur Seite stehen und dich dafür nicht verurteilen, dann hast du großes Glück.

7. Suche einen Therapieplatz:

Das Habit Reversal Training, die Verhaltens- oder Hypnotherapie sind die gängigsten Formen der Therapie für Skin-Picking-Patient*innen. Leider gibt es nach wie vor nur wenige Spezialist*innen auf dem Gebiet der BFRBs – das gilt für Ärzt*innen, sowie für Therapeut*innen.

Wenn du die Symptom nicht blockieren/verhindern möchtest, sondern die Ursache für das Picken finden möchtest, könnte eine full-on Psychoanalyse sehr hilfreich sein. Die Theorie dahinter: Durch das Fühlen und Verarbeiten von Emotionen in der Therapie, brauchst du die Picking-Sessions nicht mehr als Ventil.

Extra Tipp: Erkundige dich auch, ob deine Krankenkasse einen Teil von den Kosten übernehmen möchte/kann.

8. Du schaffst das!

Als Mensch machen dich ganz andere Dinge aus - DU bist nicht dein Skin-Picking!

Lass dir von niemandem einreden, dass du weniger wertvoll, liebenswert oder attraktiv bist als andere Menschen – auch nicht von DIR selbst.